Stadtteil-Historiker

Wo Geschichte lebendig wird

24. April 2023 von Elisabeth Brachmann

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Ein Rückblick, um nach vorne zu blicken: So ist es die Regel am Tag der Geschichte, bei dem die scheidende Generation der Stadtteil-Historikerinnen und -Historiker nach 18 Monaten im Stipendium traditionell ihre Forschungsergebnisse präsentiert und eine neue Generation begrüßt wird.

Die Feier am 22. April 2023 in der Evangelischen Akademie bot Einblicke in alte und neue Projekte, die die Stadt(teil)geschichte Frankfurt am Mains untersuchen. Besondere Ausdauer attestierte Katharina Uhsadel, Bereichsleiterin Kultur der Stfitung Polytechnische Gesellschaft, der Stadtteil-Historiker-Generation der Jahre 2020-22, mussten sie ihre Forschungsvorhaben doch unvorhergesehen unter Pandemiebedingungen bestreiten: "Sie haben sich mit noch größerer Ausdauer, als sie den Stadtteil-Historikern ohnehin schon zu eigen ist, ans Werk gemacht. Sie haben Rückschläge hingenommen und ihre Fragestellungen bei Bedarf neu justiert. Und das Wichtigste: Sie sind am Ball geblieben!", freute sich Uhsadel.

Eine Generation mit besonderer Ausdauer

Christoph Busch etwa beschäftigte sich auf Grundlage von Zeitzeugeninterviews mit den Herkunftsgeschichten Rödelheimer Geschäftsleute. Julia Preißer arbeitet an einer Website zur Geschichte der Freikörper-Kultur in Frankfurt. Ernst-Josef Robiné analysierte Kunstwerke aus 500 Jahren des Frankfurter Stadtteils Höchst. Eda Basklevent (geb. Korkmaz) dokumentierte die Geschichte des Fahrradladens Per Pedale in Bockenheim. Cornelia Weller forschte zum Club Voltaire, Kirsten Schwartzkopff zum Schicksal jüdischer Mitglieder der Rudergesellschaft Germania. Dr. Matthias Vetter hat eine eindruckvolle Publikation zum russischen Possev-Verlag in Rödelheim vorgelegt. Rosemarie Hassel hat über den Blog des Universitätsarchivs die Geschichte des Frauen-AStA an der Universität Frankfurt dokumentiert, deren Mitglied sie selbst war. Sascha Mahl hat sich anhand von Lebensläufen mit der Geschichte Griesheims in der NS-Zeit beschäftigt. Dr. Reinhard Büttner recherchierte auf Basis spärlicher Quellen zur (verschwundenen) Farbenfabrik auf dem Oeder Weg.

Christian Heidrich hat einen Film über die Geschichte des Punkrock in Frankfurt produziert. Harald Pinhack hat ein Buch über das ehemalige Höchster Gefängnis verfasst. Ebenso hat Gerhard Weidhaas zu den Musikzügen der Freiwilligen Feuerwehren in Frankfurt am Main recherchiert und geschrieben. Jann S. Wienekamp hat zur Geschichte des Ortsbeirats Bornheim geforscht, Bruni Marx zu den Orten der Frankfurter Familie Tesch. Antje Arold-Hahn hat mit ihrer Forschungsarbeit "Kriminalitätsgeschichte der Susanna Brandt – Kindsmord und Gerechtigkeit seit dem 18. Jahrhundert" eine dauerhafte Stele im Sommerhoffpark auf den Weg gebracht. Martin Berthoud und Stefan Jakob haben Abi-Plakate der Wöhlerschule analysiert, die im neuen "Frankfurter Kunstraum" ausgestellt wurden. Eleonore Heuer hat 150 Jahre Frankfurter Diakonissen in einem dichten Vortrag zusammengetragen. Cajus Frick hat sich mit dem ältesten Haus Frankfurts, dem Haus Wertheim, beschäftigt. Michaela Wernig begab sich auf Spurensuche des Hofgutes Goldstein, die Ergebnisse sind auf der Website der Goldstein-Siedlung verfügbar. Dr. Axel Rosch beschäftigte die Schulbildung im Arbeiterviertel Gallus, Puja Pourmand die Buchhandlung Bücher Waide in Schwanheim. Ewelina Zielonka hat viele Einzelheiten über den Tanz in Eckenheim herausgefunden. Abel Munoz Röcken forschte zu Schopenhauers Zeit in Frankfurt.

Biografien, Kulturgeschichte, Gebräuche und Städtebau

Die Jury aus Dr. Jan Gerchow, Direktor des Historischen Museums Frankfurt, Dr. Thomas Bauer vom Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, Dr. Andrea Hohmeyer, Leiterin Corporate Archives der Evonik Industries AG, und Prof. Dr. Frank E.P. Dievernich, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Polytechnische Gesellschaft, beriet über 32 eingegangene Bewerbungen. Nun gehen 24 neue Stadtteil-Historikerinnen und -Historiker im Alter von 25 bis über 80 Jahren an den Start. In den kommenden zwei Jahren werden auch sie ein Thema in ihrem Stadtteil historisch erforschen, das sie sich selbst ausgesucht haben.

Ortrud Toker möchte die Vita Friedrich Siegmund Juchos nachzeichnen. Der Abgeordnete der Stadt Frankfurt war Mitglied der Nationalversammlung im Paulskirchenparlament sowie Mitglied der Polytechnischen Gesellschaft von 1816. Auch Walter Ponseck, Sabine Kindel und Klaus Weisbrod beschäftigen sich mit Biografien Frankfurter Persönlichkeiten. Dr. Hermann Tertilt möchte den Lebensweg der Familie Guckenheimer nachvollziehen, die das Haus in der Günthersburgallee 1938 verkaufen musste, in dem er heute lebt. So möchte er das Andenken der Familie wahren. Pascal Wolf möchte die Chronik zu 100 Jahren Holbeinschule in Sachsenhausen (Vorgängerschule der IGS-Süd) gemeinsam mit einigen seiner Schülerinnen und Schüler aufarbeiten. Michael Köhler und Ernst Szebedits möchten mehr über die Fotoserie von Barbara Klemm erfahren, die in der U-Bahn-Station Bockenheimer Warte zu sehen ist. Auch Robin Brey beschäftigt sich mit einer U-Bahn-Station, und zwar der in  Ginnheim. Hartmut Blaum erforscht die Geschichte des Andreasgelages, das zwischen Frankfurt und Kelsterbach stattfindet.

»Die Arbeit der Stadtteil-Historiker leistet einen wertvollen Beitrag zur Erschließung und Sicherung von Erkenntnissen über die Geschichte Frankfurts.«

Dr. Jan Gerchow, Direktor Historisches Museum Frankfurt

Tania Kultikova widmet sich den verschiedenen Migrantengruppen und deren Leben in der diversen Frankfurter Stadtgesellschaft. Susanne Roether möchte die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Dienstpersonal im Nordend Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts rekonstruieren. David Moskovits widmet sich den Schwulenlokalen in der Innenstadt nach 1945. Hanns-Christoph Koch dokumentiert die Geschichte der Villenkolonie "Heimatsiedlung" in Seckbach. Prof. Dr.-Ing. Hartmut Fueß, Irmgard Verleger-Aycan, Pinar Köseoglu, Dr. Gudrun Jäger und Rudolf Weising gehen der Geschichte bekannter Gebäude in Frankfurt nach, darunter das Schopenhauer-Haus und das Westendheim, auch "Perlenfabrik" genannt. Michelle Heyer befasst sich mit der Lebensader des Bahnhofsviertels: der Niddastraße. Reiner Wagner arbeitet eine Stadtteilführung in Bornheim aus, Christiane Boehm-Kochanski befasst sich mit der Dornbusch-Siedlung. Reiner Conrad dokumentiert die Entstehung der ersten Umweltstandards. Mel Evans verwirklicht ihre Begeisterung für ihre Heimatstadt in ihrem Projekt "Frankfurt – eine Traumstadt".

"Die Stadtteil-Historiker übernehmen oft eine Aufgabe, die Archivare zeitlich nicht bewältigen können", erklärte Prof. Dr. Frank E. P. Dievernich den Ansatz des Projekts. "Sie gehen einem abgegrenzten Aspekt der Stadt- oder Stadtteilgeschichte fundiert auf den Grund." Museumsdirektor Dr. Jan Gerchow bestätigte: "Einschließlich der heute offiziell aufgenommenen Stipendiaten wurden nun schon 221 Personen als Stadteil-Historiker aktiv. Das ist eine sehr beachtliche Zahl! Diese Bürgerinnen und Bürger sind Experten für ihre Stadt. Die Arbeit der Stadtteil-Historiker leistet einen wertvollen Beitrag zur Erschließung und Sicherung von Erkenntnissen über die Geschichte Frankfurts. "